Später Pop-Fan

„Späte Rosen“ betitelte Theodor Storm eine Novelle und natürlich ging es um Liebe, für die es nie zu spät ist. Als Olivia mir aus Zürich faxte, daß sie am Montagabend leider, leider nur bis acht Uhr abends könne, weil sie anschließend mit einer Freundin noch Karten für die Pop-Gruppe XYZ ergattert hätte, da spürte ich abermals jenen Schmerz. Es ist der Schmerz der Sehnsucht, bestimmte Lieben nicht geliebt zu haben. Ich meine nicht Olivia, die ich nur von ihren dienstlichen Briefen aus Paolos Schweizer Sekretariat kannte. Ich meine Pop-Musik. Alle um mich herum lieben Pop. Auch die konservativsten Knochen um mich herum stehen auf X oder ziehen sich Y rein. Oder Grönemeyer auf Uelzens Pop-Markt. Nur ich liebe sowas nicht. Dachte ich. Olivias Einladung zu einem Drink nach der Sitzung und die Tatsache, daß sie diese mir unbekannten Stars meiner erstmaligen Gegenwart bevorzugte, gab mir den Rest. Ich wollte es wissen, was es mit der Realität dieser Bilder auf sich hatte, die ich nur von Ab-Bildern und TV-Fetzen kannte: Schreiendes rhythmisches Johlen, exzessive Lautstärken, Lichtbündel geschwenkter Feuerzeuge und Meere umgekippter ohnmächtiger Fans und Getränkebecher. Ich musste es wissen. Ich ging mit. Mit Olivia und Susi. Frau Oettli so nannte ich Olivia bis zu diesem Abend wachte über mich bereits in der Warteschlange vor der Tür, aus der Qualmschwaden drangen, als ob alle Raucher Zürichs drinnen pafften. Sie und Susi nahmen mich in die Mitte und zogen bzw. schoben mich - in den dunkel, akustisch schon brodelnden Saal, wo ich als erstes das Fehlen von Stühlen, als zweites eine dichtest gedrängte Menschenkörpermasse sah. Olivia sah auch. In meine Seele. Die beiden Frauen, Mütter waren es für mich, die ihr Junges am ersten Kindergartentag an die Hand nehmen, schleppten mich wieder raus, hoch auf die Galerie. Stühle, Sitzen, Sicht war da möglich... Luft! Nichts ist zu spät. Keine Liebe ist nicht noch lebbar: Ich erlebte einen Schlagzeuger, in den ich hätte zurückkriechen wollen wie in Urmütter. Ich zitterte mit diesem E- Ba, ich weinte mit diesem Saxophon und lachte mit dem Clown am Keyboard. Ich neidete den ersten in der vordersten Reihe die ausgedienten und weggeworfenen Stickers, die verschwitzten Hals- und Handtücher, die die Götter da vorne auf die Erde warfen und hätte auch eines haben wollen (für die Töchter). Dafür teilte ich nach dem Konzert die Taubheit, die Heiserkeit und den Tabak- und den Bierdunst in meinem Jackett (es war das einzige unter tausend Westen, Pullis und Shirts und ich bin nicht gelyncht worden). Ich wurde lichtgetragen von Spotlight-Bündeln, hinter denen sich alle funktionierenden Leuchttürme befinden mssten, ich sang mit, so laut wie nie und hörte nichts davon. Nein, es ist nie zu spät für die Liebe, Olivia und Susi.

19. März 1996